Now Our World 1
In dieser Ausgabe:
ManifestLebensweisenDie Entwicklung des modernen Wohnens
In der vormodernen bäuerlichen/dörflichen Gesellschaft etwa bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wohnt wohnt in Deutschland die Mehrheit der Bevölkerung in einem größeren Haushalt zusammen, der in der Regel eine Selbstversorgungseinheit war. In diesem so genannten „ganzen Haus“ leben und arbeiten mehrere Generationen von Verwandten. Die landwirtschaftlichen Hilfskräfte sind selbstverständlicher Teil des Haushaltes. Arbeiten und Wohnen sind räumlich nicht voneinander unterschieden. Abb.1
Ab Beginn des 20. Jahrhunderts vollzieht sich die Trennung von Wohnen und Arbeiten. Mit der Industrialisierung wandern immer mehr Teile der ländlichen Bevölkerung in die Städte und die Fabrikarbeit ab. Damit steigt der Anteil der Lohnarbeit außerhalb des Hauses und die Funktion Arbeiten als Existenzgrundlage wird aus dem Wohnen ausgelagert. Die Wohnung wird allmählich zum Ort der Nichtarbeit (ausgenommen der Haus- und Sorgearbeit), in der Intimität, Erholung, Entspannung und Reproduktion gelebt werden. In den Städten wird die Lohnarbeit zur Haupteinnahmequelle der Familien.
Mit der Industrialisierung setzt sich die Kleinfamilie durch, die nur noch aus Eltern und ihren Kindern besteht. Auf dieser idealisierten Lebensform beruhen die Standardwohnformen, die wir heute noch auf dem Wohnungsmarkt vorfinden. In den hochherrschaftlichen Gründerzeitgebäuden werden die Grundrisse der Wohnungen auf die Bedürfnisse der Kleinfamilie zugeschnitten: große Wohnzimmer, Elternschlafzimmer, Kinderschlafzimmer, Küche, Bad, ggf. Dienstbotenräume. Das Ideal kann allerdings nur von den wohlhabenden bürgerlichen Schichten umgesetzt werden.
Für Arbeiter*innenhaushalte sind Anfang des 20 Jahrhunderts billige Wohnungen knapp. Oft teilen sich mehrere Familien eine Wohnung in den Mietskasernen der großen Städte oder nur ein Zimmer. Die hohe Wohndichte, Wohnen in dunklen Hinterhäusern oder feuchten Kellerwohnungen, führt oft zu Krankheiten wie Tuberkulose und erhöhter Kindersterblichkeit. Das Wohnungselend fasst der Zeichner Heinrich Zille knapp zusammen: 'Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso gut töten wie mit einer Axt!' In der Weimarer Republik wird Wohnungsbau mehr und mehr zu einer sozialpolitischen Aufgabe.
Das „Neue Bauen“ des Bauhauses beschäftigt sich in den 1920er Jahren damit, wie möglichst schnell günstige und flexible Gebäude errichten werden können. Die Protagonisten arbeiten daran, eine perfekte und günstige Kleinstwohnung zu entwickeln, die sich auch weniger wohlhabende Bevölkerungsgruppen leisten können. Sie konstruieren eine neuartige Einbauküche, die Frankfurter Küche mit knapp 6,5 Quadratmeter Fläche. Durch die Optimierung der Arbeitswege sind alle für die Hausarbeit wichtigen Geräte in diesen kleinen Raum integriert und die Küche kann auf diese minimale Größe begrenzt werden. Abb.2
Seit den 1970er Jahren ist in Deutschland eine Ausdifferenzierung von Lebensstilen zu beobachten, die neue Haushaltsformen und neue Wohnbedürfnisse mit sich bringen. Die Bandbreite der Lebenssituationen reicht von Singles, Alleinerziehende, kinderlosen Paaren, Patchwork-Familien, bis zu Wohngemeinschaften und andere Formen des gemeinschaftlichen Wohnens. Dabei ist die Singularisierung als freiwillige oder unfreiwillige Form des Alleinwohnens und der Trend zum Einpersonenhaushalt nicht zu übersehen. Auf der anderen Seite und allen Singularisierungstendenzen zum Trotz zeigt sich aber auch ein Bedürfnis nach (selbst gewählter) Gemeinschaft und Zugehörigkeit. In jedem Alter werden Wohnkonzepte gesucht, die eine Balance zwischen Individualität und Gesellschaft, zwischen Rückzug und Gemeinschaftlichkeit ermöglichen.
Wichtige Experimente von alternativem gemeinschaftlichem Wohnen haben ihren Ursprung in der 1968er Bewegung. „Raus aus dem bürgerlichen Wohnmodell“ ist die Devise der Kommunebewegung. Die Kommune bildet einen Gegenentwurf zur Kleinfamilie, die als kleinbürgerliche, repressive „Keimzelle des autoritären Charakters“ gilt. Stattdessen sollen herrschaftsfreie und befriedigende Beziehungen gelebt werden. Letztlich scheitern die meisten Kommunen an ihren utopischen, überhöhten Ansprüchen an die eigene Person, das Kollektiv und den gesellschaftlichen Gestaltungsspielraum. Durchsetzungsfähiger und pragmatischer sind die Wohngemeinschaften, die aus der Kommunebewegung hervorgingen. Wohngemeinschaften sind bis heute etabliert als zumeist kurz- bis mittelfristige Wohnform für Studenten oder sonstige in der Ausbildungsphase befindliche Personen.
Die Idee vom gemeinschaftlichen Wohnen ist nicht auf die junge Generation beschränkt. In den späten 1970er Jahren entstanden neue Wohnformen für ältere Menschen. Das konventionelle Wohnangebot in Pflege- und Alteneinrichtungen wird von diesen stark kritisiert. Unter dem Motto ‚Nicht allein und nicht ins Heim‘ wird nach selbst bestimmten Wohnalternativen gesucht. Zunächst entstehen vor allem altershomogene, eher kleinere Wohngruppen. In den achtziger Jahren entstehen größere und altersgemischte Wohnprojekte und die ersten Pflege-Wohngemeinschaften.
Die heutigen Trends in Bezug auf neue Wohnkonzepte sind gegenläufig. Während auf der einen Seite Wohnen immer mehr als Ware behandelt wird und der Wohnungsbau auf den Trend zum Single-Haushalt mit lukrativen Mikroapartments reagiert, ist gleichzeitig ein Umdenken zu beobachten. In Zeiten in denen Familienbande auseinander brechen und Generationenverträge im Bereich Versorgung und Pflege nicht mehr greifen, wünschen sich immer mehr Menschen gemeinschaftliche Wohnmodelle. Neue Wohntypologien sowie neue und flexible Grundrisstypen werden entwickelt, um Wohnungen an heutige Lebensmodelle und Bewohnerbedürfnisse anzupassen.
Neue Wohnkonzepte – eine Auswahl
Cluster-Wohnung
Der Begriff stammt von engl. cluster = Ballung, Bündel, Gruppe. Das Wohnmodell kommt für Menschen in Betracht, denen die klassische Wohngemeinschaft zu wenig Privatsphäre bietet, die konventionelle Mietwohnung aber zu wenige Kontaktmöglichkeiten. Eine Cluster-Wohnung besteht aus mehreren kleinen Wohneinheiten, die eine große zusammenhängende Wohnung bilden. Verbindendes Element ist die Gemeinschaftsfläche. Anders als bei einer Wohngemeinschaft verfügt jedes Zimmer über Bad und Kochnische. Diese Gestaltung lässt ein Maximum an gemeinschaftlichem Leben zu und ermöglicht zugleich den Rückzug in die eigene komplette Wohnung. Die richtige Dimensionierung der gemeinschaftlich genutzten Bereiche im Verhältnis zu den privaten Flächen stellt die größte Herausforderung bei der Planung einer Cluster-Wohnung dar.
Mehrgenerationenwohnen – Familie 2.0
Eine Haus- oder Wohngemeinschaft, in denen mehrere Generationen miteinander leben ist quasi die moderne Form der Großfamilie oder des „ganzen Hauses“. Ziel ist eine generationsübergreifende Lebens- und Wohnform, in der genug Platz für eigene Bedürfnisse und Privatheit ist, die aber auch davon getragen wird, dass sich alle gemäß ihrer Fähigkeiten in die Gemeinschaft einbringen. Gegenseitige Hilfe und Unterstützung werden erwartet. Dieses Wohnkonzept ist mit viel Verantwortung verbunden. Wer zugesagt hat, beispielsweise zweimal pro Woche die Einkäufe für andere Mitbewohner*innen zu erledigen oder täglich die Nachbarstochter von der Kita abzuholen, muss diesen Pflichten auch nachkommen. Anderenfalls fällt das Konzept des Mehrgenerationenwohnens nach und nach zusammen.
Wohneigentum als Gemeinschaftsprojekt
In einer Baugemeinschaft oder Genossenschaft kann der Traum vom gemeinschaftlichen Wohnen im eigenen Haus relativ kostengünstig verwirklicht werden. Das Mietshäuser Syndikat unterstützt Gruppen, die ein bestehendes Mietshaus als Eigentümer*innenkollektiv übernehmen möchten. Das Mietshäuser Syndikat hat bereits einige Hausübernahmen zum Erfolg geführt und viele Häuser konnten von ihren Mieter*innen vor dem Verkauf oder Abriss gerettet werden. Die Immobilie gehört anschließend einer eigens gegründeten Gesellschaft. Sie garantiert den Bewohner*innen ein Wohnrecht auf Lebenszeit, niedrige Mieten und Schutz vor Weiterverkauf.
Ähnlich dem Mietshäuser Syndikat tun sich in einer Baugemeinschaft mehrere Parteien zusammen, um kostengünstiger ein Wohnprojekt zu realisieren und mitunter öffentliche Förderung für ihr Projekt zu erhalten. Baugemeinschaften bleiben meistens 10 bis 20 Prozent unter den ortsüblichen Baukosten. Allerdings werden bei Baugemeinschaften meist die einzelnen Parteien auch Eigentümer*innen ihrer Wohnung – und können diese bei Bedarf wieder verkaufen.
Mikroapartments
Als Mikroapartments werden kompakte, z.T. möblierte Wohnungen in urbanen Zentren mit ca. 20 bis 40 qm Wohnfläche bezeichnet. Sie haben standardmäßig eine Küche sowie ein Badezimmer. Hier wird die Wohnfläche bis zum Äußersten verringert und durch einen intelligenten Grundriss und mobile Einbaumöbel bis auf den letzten Quadratzentimeter effizient ausgenutzt. Heraus kommen Raumverhältnisse, die deutlich kleiner sind als die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf in Deutschland (2018: 46 qm). Zielgruppe der Mikrowohnungen sind Personen, die nur temporär an einem Ort leben, wie zum Beispiel Studierende, Pendler*innen, Berufseinsteiger*innen und Geschäftsleute, die oft reisen müssen.
Miniaturhäuser (Tiny House)
Wenig Platz zu nutzen ist auch das Prinzip der mobilen Tiny Houses. Das Tiny house movement ist eine architektonische und soziale Bewegung, die sich dafür einsetzt, Wohnräume zu verkleinern, zu vereinfachen und im Wesentlichen "mit weniger zu leben". Während winzige Wohnungen in erster Linie eine Rückkehr zu einem einfacheren Leben darstellen, wird die Bewegung auch als potenzielle umweltfreundliche Lösung für die bestehende Wohnungswirtschaft angesehen. Pionier der Tiny House Bewegung in Deutschland ist der Architekt Van Bo Le-Mentzel. In einem Haus nach seinem Konzept lebt man auf 6,4 bis maximal 10 Quadratmetern. Auf dieser Fläche ist alles untergebracht: Küche, Schlafplatz, Bad, Arbeitsplatz. Dies ist möglich durch eine geniale Einrichtung mit oft klappbaren Elementen. Allerdings ist die Wohnform weniger gemeinschaftsorientiert. Unterschlupf zu bieten oder Gäste zu beherbergen stellt sich hier schwierig dar.
Bauwagen
Eine Variante von Tiny Houses sind die Bauwagen. Die Gründer der Bauwagen in den 1980er Jahren sind zumeist ehemalige Hausbesetzer*innen aus der linken Szene, die ihren Traum von alternativen Lebensformen, Freiheit und Abenteuer verwirklichen wollen. Immer geht es um gemeinsame Orte des Zusammenseins, des Gestaltens und Experimentierens, um Freiräume, die es im Umfeld nicht gibt. Die ersten Berliner Wagenplätze entstehen Anfang der 1980er Jahre im Schatten der Mauer und haben kurz nach der Wende ihre große Zeit. Damals besetzen viele Menschen den ehemaligen Grenzstreifen und bauen alte Last- oder Bauwagen aus. Zunächst sind zahlreiche Freiflächen zum Besetzen vorhanden, doch viele der ersten Wagenplätze dieser Zeit verschwinden im Zuge der Stadtumstrukturierung oder werden an den Stadtrand gedrängt.
Literatur
- Dürr, S.; Kuhn, G., Wohnvielfalt. Gemeinschaftlich wohnen – im Quartier vernetzt und sozial orientiert
- https://wuestenrot-stiftung.de/publikationen/wohnvielfalt-gemeinschaftlich-wohnen-im-quartier-vernetzt-und-sozial-orientiert-download/
- Eichinger, E., Was ist schon Wohnen? Abklärungsversuch zur Kultur des Wohnens
- Johannes Kepler Universität Linz, Institut für Soziologie. WS 2004/05
- Hannemann, C. Zum Wandel des Wohnens
- https://www.bpb.de/apuz/183450/zum-wandel-des-wohnens#footnode9-9
- Schmid, S., Eberle, D., K. Hugentobler M., (2019) Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens. Modelle des Zusammenlebens, Birkhäuser Verlag Basel
- https://en.wikipedia.org/wiki/Tiny-house_movement
- https://www.rheinische-anzeigenblaetter.de/sonderthemen/ratgeber/haus-garten/so-wohnen-wir-morgen-innovative-konzepte-unter-der-lupe-31137210
- https://taz.de/Wagenplaetze-in-Berlin/!5771080
Text: Elke Rusteberg
Illustrationen: Elsa Klée
Zum Inhalt.Wem gehört der Müllsack?