Boom LE – Ein Häuschen, das muss wandern ...

Leipzig

Leipzig 2020. Ein unsaniertes Haus in der Konradstraße wird zum Streitfall zwischen einem verschuldeten Vermieter und einer Mieter:innenschaft, die sich partout nicht verdrängen lassen will. Doch dem Versuch zu einer Hausgemeinschaft zusammen zu wachsen, die den Kampf wirklich aufnehmen kann, stehen allerlei Widrigkeiten im Wege. Der Milieuschutz und die Mietpreisbremse sind dabei auch keine Hilfe, die beiden philosophieren stattdessen lieber. 

Hier ein Ausschnitt aus der Stückentwicklung von Daniel Schade und der Gruppe OPTimal:

Akt III: Besitzen & Besetzen – Kiezgeflüster 4: Ecce Homo

Auf dem Neustädter Markt. Nacht. Der IMMOBILIENMARKT kommt, schaut sich um und pinkelt dann heimlich an die Kreuzkirche. Im selben Moment biegen der MILIEUSCHUTZ und die MIETPREISBREMSE um die Ecke. Unterm Arm tragen sie Diebesgut.

 

M.-BREMSE und M.-SCHUTZ (im Chor) Ecce Homo!

M.-BREMSE Pisst der einfach an die Kreuzkirche!

M.-SCHUTZ Eine Verrohung der Sitten ist das, unglaublich!

I.-MARKT (ertappt, schließt umständlich seinen Hosenschlitz) Äh- Verzeihung- Also, lauern sie mir etwa auf? Und was tragen SIE da unter dem Arm?

M.-BREMSE (zischt) Das geht dich gar nichts an!

M.-SCHUTZ (abwehrend) Hier hat jeder sein Geschäft.

I.-MARKT Dann würde ich vorschlagen, wir vergessen diese Begegnung am besten  und jeder geht seiner Wege. Gute Nacht! (will gehen)

M.-BREMSE (scharf) Halt!

I.-MARKT (bleibt stehen) Ist noch was?

M.-SCHUTZ Ihr geht‘s um‘s Prinzip.

M.-BREMSE Respekt! Nicht vor der Kirchengeschichte, nein. Aber vor einem Ort, den  Menschen besuchen, verehren und pflegen. Merk dir das!

I.-MARKT Sie wollen mich über Respekt belehren? Sie!? Gehört das, was sie da mit  sich tragen etwa ihnen? Nein, ganz sicher nicht.

M.-BREMSE (entrüstet) Er lenkt schon wieder ab! Merkst du das, wie der ablenkt?  Unfassbar!

M.-SCHUTZ Das eine hat mit dem anderen gar nichts zu tun.

I.-MARKT Und ob! Ich bin hier lediglich einem dringlichen, quasi unaufschiebbaren  Bedürfnis nachgegangen. Sie dagegen haben einfach ihre Mitmenschen beklaut.

M.-BREMSE Nananana…

M.-SCHUTZ Genau genommen war es eine direkte Aktion. Eine Expropriation der  Expropriateure, wenn sie so wollen.

M.-BREMSE Eigentum ist Diebstahl!

I.-MARKT Auf meiner moralischen Richtschnur steht das eine jedenfalls über dem  anderen.

M.-SCHUTZ Aneignung, Enteignung, Verteilung. Eigentum muss zirkulieren. Die  Frage ist, zu welchem höheren Zweck. 

I.-MARKT Die Zirkulation regelt der Markt. Er vermittelt private Interessen. Ganz  ohne Zweck. Und wer sollte den auch bestimmen. Sie etwa?

M.-SCHUTZ Sie denken also, der ganze Güterhandel sollte keinem vernünftigen  Zweck dienen, wie der Verbesserung der Lebensverhältnisse, der  Veredelung des menschlichen Charakters, der Vervollkommnung der Gesellschaft?

M.-BREMSE Wird das jetzt ein politisches Seminar? Hier? Im Schatten der Nacht. Vor  den Toren Gottes.

I.-MARKT Aber das verwirklicht er doch alles, durch Handel, durch Wachstum,  durch Wohlstand.

M.-SCHUTZ Spielen sie Monopoly?

M.-BREMSE (stöhnt und setzt sich) Ach, immer das Gleiche!

I.-MARKT Äh ja- Ich meine, die Regeln sind mir bekannt.

M.-SCHUTZ Ganz grob lässt sich das Spiel ja in drei Phasen unterteilen: Nach einer  kurzen Aneignungszeit beginnt ein zäher Verteilungsstreit bevor sich  Eigentum langfristig verfestigt...

M.-BREMSE ...danach ist das Spiel quasi gelaufen, weil alle nur noch Einem  zuschauen, wie er immer reicher wird...

M.-SCHUTZ … während alle anderen über kurz oder lang ausbluten.

M.-BREMSE Völlig blödes Spiel.

I.-MARKT Das mit der Komplexität der Wirtschaft wenig zu tun hat.

M.-SCHUTZ Sie werden doch zugeben, dass auch mit einfachen Regeln eine hohe  Komplexität darstellbar ist, oder nicht?

M.-BREMSE Antworten sie nicht.

I.-MARKT Es ist bloß ein Brettspiel.

M.-SCHUTZ Die Anschauung ist hier von zentraler Bedeutung. (suchend) Moment. M.-BREMSE (stöhnt)

Der MILIEUSCHUTZ überlegt, nimmt dann ein Häuschen und platziert es auf einer  Straße.

M.-SCHUTZ (eifrig) Sagen wir, aus der Restitution des Volkseigentums der DDR fällt  ihnen ein Häuschen in der Wasserturmstraße zu. Hier. Sanierungs technisch halten sie alles so billig wie möglich. Notfalls nehmen sie einen  kleinen Kredit…

M.-BREMSE (stöhnt) Warum nur mach‘ ich das nur immer mit.

I.-MARKT Kommen sie zum Punkt, bevor ich die Polizei rufe. Dann gehen sie  nämlich nicht mal über Los, sondern direkt ins Gefängnis.

M.-SCHUTZ …ähm. Also, damit als Sicherheit können sie über einen weiteren Kredit  ein weiteres Haus erwerben. Sagen wir hier, in der Baaderstraße.  (platziert das nächste Häuschen) Die Mieter zahlen immer pünktlich. Und  ja: Es rentiert sich. Die Kredite fressen einen Großteil der Gewinne auf.  Aber es läuft.

M.-BREMSE (versucht, die Sache zu beschleunigen) Leipzig wächst, ihr Vermögen  wächst und sie werden mutig.

M.-SCHUTZ Ein weiterer Kredit, ein weiteres Haus. Diesmal allerdings in der  Parkstraße. Bessere Lage, höhere Mieten. Hier. (platziert das nächste  Häuschen) Mehr Rendite.

I.-MARKT (ungeduldig) Was wollen sie sagen?

M.-SCHUTZ Dieses äußerliche Wachstum hat seine Grenzen, schlicht durch die  begrenzte Anzahl an Häusern und den damit verbundenen Preisen.  Aber! ...

M.-BREMSE … also rann an die Substanz!

M.-SCHUTZ Warum nicht die Häuser in der Wasserturm- und Baaderstraße aufwerten, r höhere Mieten, wie in der Parkstraße? (tauscht die Häuschen in der  Farbe aus)

I.-MARKT Wenn das der Markt hergibt. Warum auch nicht.

M.-BREMSE Tata! Der Leim ist aufgegangen.

M.-SCHUTZ Ganz einfach: Weil einige Mietparteien sich die höheren Mieten nicht  werden leisten können.

I.-MARKT Dann müssen die halt umziehen. So ist das nunmal.

M.-BREMSE Diejenigen, durch deren regelmäßiges Einkommen dein Häuserimperium  überhaupt erst wachsen konnte, willst du jetzt also rausschmeißen, ja?

I.-MARKT Ja sorry, wenn es keinen anderen Weg gibt.

M.-SCHUTZ (triumphierend) Den gibt es! Durchbrechen sie das abstrakte  Mietverhältnis, heben sie die Entfremdung auf und lernen sie die  Mieterschaft kennen. Von Mensch zu Mensch. Eine bedarfsgerechte  Sanierung bringt ihnen vielleicht nicht die maximale Rendite, aber…

M.-BREMSE Aber allen ein glückliches Leben. (steht auf) So, können wir gehen?  Bitte!

I.-MARKT Stop, stop! Ihre kleine Mensch-zu-Mensch-Theorie mag ja das  romantische Herz bewegen, aber ein konventioneller Marktakteur hat  heutzutage hunderte Mieter und Mieterinnen. Beziehungsarbeit ist da  eine Illusion. Es regiert der Markt und der ist herzlos. Ob man das nun  bedauern will oder nicht.

M.-SCHUTZ An dieser Stelle kommt mein Verbesserungsvorschlag!

M.-BREMSE Echt jetzt!? (setzt sich) Du hast eine Minute, dann bin ich hier weg.  Meinetwegen auch: Allein!

M.-SCHUTZ Ich nenne es „Aneignungskarten“. Die können gespielt werden, wenn  man auf eine teure Straße kommt. Etwa: „Eigenbedarfsklage der  Mieterschaft“ oder „Immobilienwechsel zu deinen Gunsten“ oder einfach  „Legale Hausbesetzung“. Das würde das Spiel dynamisieren und  langfristig Spielspaß für alle garantieren.

I.-MARKT Sie reden jetzt wieder vom Brettspiel oder?

M.-BREMSE (genervt) 30 Sekunden.

M.-SCHUTZ Ja sicher. Zu Anschauungszwecken. Ich meine aber ein Set von  Marktregeln, die auf einen höheren Zweck verweisen, und damit die  Vermittlung bloß privat abstrakter Interessen moralisch konkret

überhöhen. Einen Menschen aus seiner Wohnung zu werfen, ist  

schließlich keine Frage des Gewissens, sondern eine sittliche der  Gesellschaft im Ganzen.  

I.-MARKT (lacht) Ich muss zugeben, das ist der mit Abstand originellste Versuch,  sich aus einem Diebstahl heraus zureden, den ich je erlebt habe...

M.-BREMSE (genervt) Noch zehn.

I.-MARKT ...Aber sie unterschlagen dabei die verfestigte Eigentumsordnung, die der Rechtsstaat jederzeit garantiert. Daraus erwächst ja erst die persönliche  Freiheit, die jedem Bürger zukommt.

M.-SCHUTZ Eigentum ist ein soziales Wesen, gekettet an das Kapital. Die Habsucht.  Und den ganzen Materialismus in unserer Gesell...

Sirenengeheul.

STIMME (über Lautsprecher aus dem Off) ACHTUNG! ACHTUNG! Dieses Gebiet  wurde mit sofortiger Wirkung zur Sonderschutzzone erklärt. Begeben sie  sich umgehend in ihre Häuser. Ich wiederhole: Diese Versammlung ist  aufgelöst! Gehen sie nach Hause und leisten sie den Anordnungen der  Behörden unbedingt Folge. ACHTUNG! ACHTUNG! Dieses Gebiet wurde  zur Sonderzone erklärt. Bleiben sie in ihren Häusern!...

Ton aus.

Währenddessen:

M.-BREMSE Die Bullen! Los! Stiften! (Ab.)

M.-SCHUTZ Au Backe. Bloß weg! (Ab.)

I.-MARKT Was?? Also!? So warten sie doch auf mich! (Ab.)


Zum Inhalt.
Die Beringstraße durch ein Fernglas